Rückblende: Weihnachten 2010
Ich sitze in der Kirche. Meinem Opa zuliebe. Er ist an den Rollstuhl gefesselt und wünscht sich das ich mit komme. Also gehöre ich zu diesem Pack, welches Jahr für Jahr die Kirche verstopft. Nicht aus dem Glauben an Gott heraus, sondern weil man Weihnachten in die Kirche geht. Das ist nun mal so. Doch dieses Jahr schwöre ich mir, dass es das letzte Mal gewesen sein wird. Die Messe ist wiedereinmal von Anglizismen verseucht. Ständig spricht der an Flanders erinnernde Pastor von „Just for Fun“ und benützt hippe Worte wie „Hip“. Ich schäme mich. Ich habe nichts gegen eine lockere Messe. Aber etwas Würde sollte das ganze schon haben. Nicht weil ich an Gott glaube, sondern Würde für mich zur Show gehört.
Und dann geht es richtig los. „Ich habe habe da was auf Youtube gesehen, was mein Herz berührte.“, verkündete der Pastor. Meine Gesichtszüge entgleisen. Er wird doch nicht? Nein, er wird nicht… In der Kirche hat Youtube nichts verloren. Es ist schon erbärmlich genug, dass Youtube jede Party und jede Konversa… Er spricht weiter: „Das möchte ich ihnen gerne zeigen! Film ab.“ Gezeigt wird ein kitschiger amerikanischer Kirchenfilm in dem es ähnlich zugeht wie in „Jede Zelle meines Körpers ist glücklich“. Kaum auszuhalten. Ich schäme mich Fremd wie zu kaum einem anderen Zeitpunkt in meinem Leben. Hinter mir ruft jemand (und ich bin es echt nicht) „Fernsehgucken kann ich auch zuhause.“ Doch der Pastor zieht es eisern durch… Danach hab ich nicht mehr so recht aufgepasst. Es war einfach peinlich und ich überlegte Katholisch zu werden. Eine Konfession auf dem Papier brauche ich ja für meinen Job…
Die Gegenwart: Weihnachten 2011
„Komm schon.“ sagt mein Bruder. „Mir zuliebe.“ „Nein. Auf keinen Fall. Ich möchte mir diesen Kasper nicht antun.“ „Dann für Opa.“ Da ist er wieder. Der Opa. Der alte Mann hat nun wahrlich nicht viel zu lachen in seinem Leben. Kann ich ihm das zumuten nicht mit in die Kirche zu kommen? Ich möchte Menschen die mir lieb sind ungern enttäuschen. Und erst recht nicht den Menschen, welche zusätzlich noch einige Steine zu schleppen haben. Zähneknirschend willige ich also ein.
Da sitzen wir nun erneut in der Kirche. 30 Minuten zu früh, wie immer. Wir haben also einen guten Platz erwischt. Ich stelle erfreut fest, dass dieses mal im Rettungsgang und im Hauptgang keine Stühle wie 2009 aufgebaut sind. Damals schon hielt ich das für eine Todesfalle. Das sage ich auch zu meiner Mutter, welche neben mir sitzt. Wie jedes Jahr.
16:50 – Die Kirche ist rappelvoll. Nun beginnt ein Helfer doch noch Stühle aufzustellen. Und zwar nicht einreihig. Sondern ZWEIREIHIG! So das gar kein durchkommen mehr ist. In meinem von Paranoia durchtränkten Hirn spielen sich die übelsten Katastrophenszenarios ab. Ich hasse die Masse. Ich hasse es eingesperrt zu sein in einem Raum voller Menschen. Selbst unter freiem Himmel bekomme ich schon zuviel, wenn ich meinetwegen auf einem Konzert bin. (Weshalb ich auch nicht auf Konzerte gehe.) Während ich total verkrampft da sitze beginnt der Gottesdienst. „Wir freuen uns, dass auch dieses Jahr so viele Menschen in unsere Kirche gefunden haben.“ Ich brodle. Meine Fäuste verkrampfen sich. „Wir mussten, wie sie sehen, sogar wieder Stühle aufstellen.“
„HOFFENTLICH FÄNGT ES NICHT AN ZU BRENNEN! (mit dem Unterton „Sie Idiot“)“, ruft jemand aus dem Publikum. „Wie bitte?“, fragt der Pastor. Da merke ich, das ich der Störer war. Also noch etwas lauter:
„Ich sagte, H O F F E N T L I C H F Ä G T E S N I C H T A N Z U
B R E N N E N.“
Ein Pause. Ein zustimmendes Gemurmel geht durch die „Gemeinde“. Dann der Pastor „Aber Gott ist doch mit uns.“ Ein „Sie naives, verantwortungsloses Arschloch haben wohl noch nie was von Massenpanik, Loveparade und anderen tollen Dingen gehört.“ liegt mir auf der Zunge. Ich sage aber nichts. Dann geht’s weiter.
Nach zwanzig Minuten der absoluten Ausweglosigkeit kommt dann der zweite Knüller des Abends. „Ich möchte ihnen ein Lied mitgeben. Ein Stern der deinen Namen Tragt von Dj. Ötzi.“ Bitte was?!?!?! Ich bin voll dabei. Ich fragte mich nämlich schon wie er die Pein vom letzten mal toppen wollte. „Technik. Spielen sie das Lied doch bitte mal an!“ Die Technik versagt. Ich mache drei Kreuze. Erlöst bin ich trotzdem nicht. Nachdem er das Lied auseinanderklabüstert und Moralisch durchaus nachvollziehbare Schlüsse zieht (das muss ich ihm wirklich lassen!) beließ er es nicht dabei und gab dem Organisten den Auftrag das Lied zu spielen. Der Text wird an die Leinwand projiziert. Und die Gemeinde singt leiernd mit. Zumindest einige.
Und ich sitze im wahrsten sinne des Wortes zwischen den Stühlen: Komme ich nächstes Jahr wieder mit oder bleibe ich zuhause? Ich meine, wenn da etwas passiert und meine Familie getötet wird – und das an Heiligabend – dann könnte ich mir das nicht verzeihen. Aber will ich mir diesen RTL2 Pastor allen ernstes nochmal antun und einen Hirnschlag riskieren? Ich weiß es nicht. Vermutlich siegt ohnehin mein schlechtes Gewissen.
Frohe Weihnachten euch allen.